Menschen, Menschen, Menschen - Berlin 2013
Im Herbst des letzten Jahres hatte ich mich entschieden, im Jahr 2013 den (Lauf)Marathon von Berlin als zweiten Saisonhöhepunkt auszuwählen. Berlin gehört zur Marathon World League, und damit zu den 6 berühmtesten Marathons der Welt mit jeweils mehr als 30.000 Teilnehmern, von denen sich drei in den USA (Boston, Chicago, New York), und drei außerhalb der USA (neben Berlin noch London und Tokyo) befinden.
Entsprechend international war das Teilnehmerfeld. Es waren über 6.000 Dänen, 2500 Engländer, je 1.500 Franzosen, Schweden und Holländer und fast 1.000 US-Amerikaner am Start. Insgesamt 110 Nationen waren am Start, sogar 250 Australier und 150 Südafrikaner hatten sich auf den weiten Weg nach Deutschland gemacht, um mitzulaufen.
Dementsprechend “wuselig” ging es schon bei der Anmeldung zu. Das Abfluggebäude, 3 Hangars und Teile des Freifelds auf dem Gelände des früheren Flughafens Berlin-Tempelhof waren in Beschlag genommen für die Anmeldung sowie eine riesige Begleitmesse, auf der man problemlos ein halbes Monatsgehalt für Laufsachen hätte loswerden können. Der frühere Weltrekordler Haile Gebrselassie war auf dem Adidas Stand und gab Autogramme.
Am nächsten Morgen ging es vom Hauptbahnhof zum Start/Zielbereich, das mitten im politischen Herzen von Berlin, zwischen Bundestag und Bundeskanzleramt gelegen war. Ein langer Menschen-Lindwurm schlängelte sich durch die breiten Wege, obwohl das Gelände riesig war, war es voll. Ich zog meine langen Klamotten aus, hängte mir eine große gelbe “Plastiktüte” um, die zum Warmhalten vom Veranstalter ausgegeben wurde, und begab mich in meinen Startblock “H” für “hinten”. Dort muss nach dem Berlin Marathon jeder rein, der noch nie mitgelaufen ist, allein in diesem Startblock dürften ca. 10.000- 15.000 Menschen gestanden haben. Als der Startschuss ertönte und die schnellen Kenianer und Äthiopier auf Weltrekordjagd gingen, konnte ich die Startlinie nur erahnen. Erst eine halbe Stunde war es dann auch bei mir so weit und ich startete meine Uhr.
Meine Zielzeit betrug 3:59:59 h, das hatte ich aufgrund meiner Zeiten bei 10 km Läufen und Halbmarathons als mögliche Endzeit errechnet. Trotz der vielen Starter liefen die ersten 5 km ordentlich. Im Bezirk Tiergarten sind die Straßen breit und man kann auch mal über den Bordstein zum Überholen ausweichen, da dort noch nicht gar so viele Zuschauer standen. Meine Zeit nach den ersten 5 km betrug knapp 27,x Minuten, Planziel erreicht.
Das änderte sich leider auf den zweiten 5 km, die durch den Bezirk Mitte verliefen. Die Straßen waren deutlich schmäler, die Straßenränder standen voller Zuschauer, teilweise war die Strecke auch mit Gittern abgesperrt. Zum Überholen musste man jetzt häufig Zick-Zack laufen, von der linken Seite zur rechten Seite der Straße wechseln, man musste beschleunigen und abbremsen. Das ist ein Laufstil, der mir nicht liegt, ich laufe lieber ein gleichmäßiges Tempo ohne große Beschleunigungen. Zudem drückte die Blase und ich musste eine längere Toilettenpause einlegen. Die Quittung kam auf dem Fuße: über 30 Minuten für die zweiten 5 km, eine fast indiskutable Zeit. Ich war genervt, weil ich weiß, dass ich deutlich schneller laufen kann und Ermüdung konnte es zu dieser frühen Zeit des Rennens sicher noch nicht sein. Also: hopp jetzt!
Von Mitte aus ging es über Friedrichshain nach Neukölln und die Straßen wurden wieder breiter. Aber auch jetzt war viel Stop-and-Go Verkehr, immer mal wieder gab es “Bremsriegel”, mehrere Personen, die im selben Tempo eng nebeneinander liefen und die man umlaufen musste. Mein Tempo wurde wieder etwas besser, wenn auch noch nicht gut: rund 29 Minuten für die dritten fünf Kilometer.
Im folgenden 5 km Abschnitt, quer durch Kreuzberg, hatte ich einen Hänger, obwohl sich die zahlreichen Musiker am Straßenrand alle Mühe gaben, mich und die anderen Läufer bei Laune zu halten. An vielen Strecke wurde Musik live gespielt, gerade in Kreuzberg stand alle 500 Meter eine andere Kombo, von Jazz über afrikanische und türkische Musik bis hin zu Hardrock. Zudem waren unglaubliche viele Zuschauer am Straßenrand und munterten die Läufer auf. Aber meine Füße schmerzten etwas, der rechte Oberschenkel zwickte, (vielleicht aufgrund der Zwischensprints?), irgendwie schien das nicht mein Tag zu sein.
Es kam die Halbmarathonmarkierung und die Bestätigung des schlechten Gefühls: 2:03 h für die ersten 21,1, damit war das Ziel sub4 eigentlich erledigt Denn jetzt musste ich die zweite Hälfte deutlich schneller als die erste laufen, um die 4 h Marke noch zu packen, ein eigentlich unmögliches Unterfangen mit schon 20 km in den Beinen. Andererseits: Missions Impossibles haben mich schon immer gereizt ;)
Irgendwo zwischen km 20 und 25 fand ich meinen Rhythmus wieder. Ich wurde merklich schneller und fand zwei Mitstreiter, die auch ein besseres Tempo als Ziel hatten, ein Engländer und eine Dänin. Bei km 28, am Wilden Eber, dem südwestlichsten Punkt der Strecke, fühlte ich mich wieder richtig gut und die zahlreichen Zuschauer motivierten noch zusätzlich. Der Beleg kam bei km 30: 28,0 min für die letzten 5 km, da geht noch was!
Erfahrene Marathonläufer haben mir Frischling vorher gesagt: das Rennen geht bei km 30 erst richtig los. Sie hatten Recht. Zwar bin ich objektiv gesehen nicht schneller gelaufen als auf den ersten 5 km, subjektiv war das Belastungsempfinden nun maximal oder nur wenig darunter. Aber es lief und ich hatte ein gutes Gefühl.
Ich entschied mich: jetzt musst du das laufen, was du noch drauf hast, volles Risiko, egal was hinten raus kommt. Und es ging gut. Der berühmte “Mann mit dem Hammer”, der um den km 35 herum auftauchen soll, hat mich bei den vielen anderen Läufern wohl übersehen. Rund um den Kudamm war die Hölle los, sowohl auf der Strecke als auch am Straßenrand.
Als ich dort zur 35 km Markierung kam, stand wieder eine 28,x er Zeit für die letzten 5km auf der Uhr und das nach so vielen Kilometern - super! Gerechnet, ob es noch aufgehen kann, habe ich / konnte ich nicht mehr. Ich entwickelte einen Tunnelblick, die äußeren Umstände wurden ausgeblendet.
Die nächsten 5 km zogen sich subjektiv wie Kaugummi. Die langen geraden Straßen zum Potsdamer Platz und von da durch die Leipziger Straße zurück nach Mitte wollten nicht aufhören. Ich merkte, dass meine Beine nachließen und der Kopf nur noch eingeschränkt in der Lage war, sie nach vorn zu peitschen. Am Eingang zum Gendarmenmarkt war die km 40 Marke: wieder 28,x Minuten, OLE!. Das hätte ich nicht mehr erwartet, subjektiv hätte ich mich langsamer eingeschätzt.
Die letzten 2 km vom Gendarmenmarkt über die Französiche Straße zur Straße “Unter den Linden” lief ich wie in Trance. Beschleunigen ging nicht mehr, auch der Mund wurde langsam trocken, aber es war nicht mehr weit und ich lief einfach das maximale, mir noch mögliche Dauertempo. Platz war jetzt endlich genug.
Als das Brandenburger Tor zu sehen war, wusste ich, dass sich und wofür sich die Quälerei gelohnt hat. Die Zeit wurde nebensächlich, auch die anderen Läufer ringsrum interessierten nicht mehr, jetzt ging es nur noch durch das große Tor und von da 200 Meter weiter ins Ziel.
Auf der Uhr standen zwar 4:03 h, aber dennoch ich war sehr glücklich und zugleich völlig fertig. Eine Sanitäterin der Johanniter war wohl unheimlich bei meinem Anblick, sie schnappte mich und brachte mich in das Rotkreuzzelt auf eine Liege. Aber es war alles okay, nach 15 min, 2 Isogetränken und eine Banane später, konnte ich das Zelt wieder verlassen.
Ich traf zwei Bekannte aus Erfurt, wir tranken gemeinsam ein Erdinger und danach ging es gemütlich nach Hause. Noch unter der Dusche gab es das neue Ziel: 2014, dann aus einem besseren Startblock, sollen die 4 Stunden fallen! :)
Wolfgang Kölsch