"Wer was auf sich hält in der Welt,
läuft von Eisenach nach Schmiedefeld"

Am Samstag bin ich meinen 3. Rennsteiglauf, erstmalig die
Supermarathonstrecke gelaufen. In den Jahren davor war ich über 43 km
gestartet und ins Ziel gekommen, beides Mal nicht problemlos, aber die
beiden Finishermedaillen hängen unten am entsprechenden Regal.

Vor dem Bericht zunächst die nackten Fakten:
72.7 km Streckenlänge von Eisenach nach Schmiedefeld, über die Gipfel des
Großen Inselsbergs, des Sperrhügels, des Großen Beerbergs und der Schmücke
(um die wichtigsten zu nennen),
insgesamt 1.800 Höhenmeter bergauf,
meine Nettolaufzeit: 8:02:33,
Platz 562 von 2.211 Startern, Platz 107 in der AK 50

Die Vorgeschichte: nach dem erfolgreich verlaufenen Marathon in Frankfurt
im letzten Oktober reifte der Gedanke, dieses Mal nicht noch einen
"normalen" Marathon am Rennsteig anzuhängen, sondern nochmal etwas
"Verrücktes" zu versuchen, sprich die Supermarathonstrecke über 72.7 km in
Angriff zu nehmen.
Meine Vorbereitung im Winter verlief zwar nicht perfekt (3 Erkältungen in
einem Winter hatte ich schon lange nicht mehr), aber zufriedenstellend,
auch der Test-Ultralauf in Marburg über 50 km sowie der Marathon Test beim
Kyffhäuser-Berglauf gingen mehr oder weniger glatt über die Bühne, sodass
zwischenzeitliche "Rückzug" Gedanken auf die normale Marathonstrecke wieder
verworfen wurden. Noch 2 Wochen vor dem Rennsteig gelang mir in Hamburg mit
3:23 h eine neue persönliche Bestzeit über die Marathondistanz.

Dennoch blieb mir das Vorhaben bis zu einem gewissen Punkt unheimlich. Noch
nie war ich weiter als 54 km an einem Tag gelaufen, die Strecke hat fast
2.000 Höhenmeter, verläuft durch ein klimatisch schwieriges Gebiet, bei dem
im Mai von Starkregen über Schneefall bis hin zu starken Stürmen alles
geboten sein kann, und hat einem komplexen Untergrund. Glatt planierte
Waldautobahnen wechseln sich mit Wurzelteppichen ab, immer mal wieder gibt
es viele Steine auf dem Weg in allen möglichen Größen, andere Passagen sind
ausgewaschen und sehr uneben, auf Anstiege mit mehr als 15% Steigung folgen
ebenso steile Bergabstrecken. Für Abwechslung war daher gesorgt. Dass ich
über 90% der Strecke vom Laufen, Mountainbiken oder Langlaufen kannte,
machte die Sache nur bedingt besser. Ich wußte, dass mich definitiv kein
Spaziergang erwartet.

Dementsprechend vorsichtig ging ich bei der Planung vor, als ich mit der
Exceldatei eines Bekannten herumexperimentierte, der schon mehrfach den
Supermarathon gelaufen war. Meine neue Marathonbestzeit von Hamburg rundete
ich vorsorglich um 15 sec/km auf und erhöhte die vorgegebenen
Zeitaufschläge für Bergaufpassagen um 20% auf, weil ich mit meinem Gewicht
von über 70 kg nicht der geborene Bergaufläufer bin, während mein Bekannter
wesentlich weniger wiegt.

Ich hatte vorher 4 Fixpunkte geplant: VP (Verpflegungspunkt) Grenzwiese, km
27, wollte ich etwa bei 3 h durchlaufen, den VP Neuhoferwiesen bei km 45
nach ca 5 h und den VP Grenzader bei 55km nach 6h.

Danach wollte ich zum "Endspurt" ansetzen über Stein 16, Rondell, Beerberg
zum VP Schmücke und von da hinunter nach Schmiedefeld. Für diese 18 km, die
am Ende fast nur bergab gehen, hatte ich nochmal 2 h eingeplant und wollte
so knapp unter der 8 h Markierung bleiben. Gerade das Stück vom Grenzadler
bis zur Schmücke meinte ich wie meine Westentasche zu kennen, ein Irrtum,
wie sich später herausstellte.

Die Nacht verlief wie immer unruhig, wenn bei mir wichtige Wettkämpfe
anstehen, da finde ich keine Ruhe, auch wenn der gemeinsame Abend davor mit
anderen Läufern beim Italiener in Eisenach sehr nett war. Um 3:00 war ich
knallwach und auch der Kopfhörer mit Entspannungsmusik brachte keine
solche. Nicht besser wurde es dadurch, dass der Bus  zum Marktplatz etwas
verspätet kam und auch noch wegen Baustelle einen Umweg fuhr. Die Schlange
am Dixiepark kostete auch ihre Zeit und so war es schon nach 5:45 Uhr, bis
ich endlich startbereit auf dem Marktplatz stand. Da war es zu spät, um mit
Erfolg nach noch Freunden/Bekannten zu suchenHabe mich zwar in meiner
Umgebung zwar umgesehen, aber niemand entdeckt und dann schnell
aufgegeben. Außerdem
war ich eh nervös genug, wenn ich an die Strecke dachte.

Als der Startschuss ertönte, war ich im hinteren Drittel des Feldes, was
sich im Nachgang als ganz günstig erwies. Denn ich wurde dadurch gehindert,
die Brechstange auszupacken und im Tiefflug hoch zu Hohen Sonne zu pflügen.
Vielmehr trabte ich ganz entspannt im Feld die schmalen Wege den Berg
hinauf, nicht im Schneckentempo, aber eben auch nicht zu forciert.
Dabei traf ich dann doch ein paar Bekannte, die ich noch kurz grüßte, dann
aber recht bald aus den Augen verlor. Ab der Hohen Sonne wurden die Weg
breiter, aber ich blieb bei dem defensiven Anfangstempo. Wenn die
Steigungsprozente gefühlsmäßig in den zweistelligen Bereich gingen und der
Pulsmesser die 140 überschritt, begab ich mich wie fast alle meine
Mitläufer in diesem Teil des Felds in die Walkingabteilung. Wenn es flacher
wurde, merkte ich aber auch, dass ich problemlos meine 5:30 min/km laufen
konnte, ohne dass der Puls in die Höhe ging.
Nach der gefühlt 20ten Steigung kam dann endlich der markante Gipfel des
Inselsberg mit seinen Türmen in Sicht, ich überlief die Zeitmatte und
-welch Wunder- ich war fast genau bei der Zeit gelandet, die ich vorher mit
Hilfe der Excel-Tabelle geschätzt hatte. Die VP Grenzwiese erreichte ich
nach dem steilen Bergabstück nach 2:57 h und somit ebenfalls absolut im
Plan, wobei "Plan" ein sehr hochtrabender Begriff für meine grobe
Grobplanung war, die sich später zufällig als Realität erweist.

Dennoch: das machte mich natürlich sicherer, denn nun folgten auf dem Weg
über Heuberghaus, Possenröder Kreuz und Ebertswiese zur Neuen Ausspanne
eine Strecke, die ich vom letztjährigen Rennsteigstaffellauf noch sehr gut
kannte. Sowohl dieses als auch das nachfolgende Teilstück über zum VP
Neuhoferwiesen zum Gustav Freitag Stein verlief geradezu "flowig", soweit
man bei einem Ultralauf einen Flow haben kann. Nichts tat weh, alle Systeme
liefen entspannt im grünen Bereich, ich hatte so ca 10 Mitläufer um mich
herum, die so pi mal Daumen dasselbe Tempo liefen wie ich. Den Anstieg
hinter der Neuen Ausspanne und den Sperrhügel ging ich wieder gemeinsam mit
den Wanderern nach oben und unterhielt mich sogar mit zweien von ihnen ein
Stück weit. Ich passierte die Streckenhälfte bei der Ebertswiese nach fast
genau 4h sowie die Marathonmarkierung nach ca. 4:45 h und dachte, so kann
es weiterlaufen.

Hinter dem Gustav Freitag Stein kam dann aber so allmählich die Nervosität
zurück. Das Stück zum Skistadion am Grenzadler zog sich zäher als vorher,
auch wenn ich weiter mit den anderen Läufern unterwegs war und andere
Gruppen überholte, merkte ich, dass die Beine ihre Frische verloren hatten.
Außerdem erreichte ich so allmählich den point of no return, sprich km 54,
hinter dem ich noch nie an einem Tag gelaufen war und von dem ich nicht
wußte, was dahinter kommt. Dennoch, wie schon zuvor bei den Neuhofer Wiesen
erreichte ich auch den VP Grenzadler fast punktgenau. Rund 6 Minuten
Abweichung zu meinen Gunsten war ein kleiner Puffer, den ich nahezu mühelos
herausgelaufen hatte und weiter ging es zum Rondell. Davor haben die
Oberhofer Götter allerdings noch den Anstieg zum Stein 16 gesetzt, den ich
wieder im Walkingmodus meisterte. Es kam das Rondell, ich lächelte den dort
stehenden Fotographen zu und kurze Zeit später war mir nicht mehr nach
Lachen zu Mute.

Ich habe keine Erklärung dafür, ich habe brav unterwegs gegessen und
getrunken, nie unnötig das Tempo forciert, bin steile Anstiege gegangen und
fühlte mich zwar etwas müde, aber dennoch durchaus noch fit. Und es kommt
dieser besch*** Anstieg zum Großen Beerberg, den ich schon x-mal hoch bin,
mit Skiern, auf dem MTB, mit dem Crossrad und zu Fuß und was ist?
Irgendwer hat mir den Stecker gezogen, Ende, Aus, ich merke wie die rechte
Wade im Kompressionsstrumpf anfängt, unwillkürlich zu zucken, ein klarer
Krampfvorbote bei mir, der Puls fliegt hoch, obwohl ich fast trabe, die
Körner sind weg.

Jetzt beginnt der Supermarathon erst so richtig. Flow ist vorbei, jetzt
heisst es kämpfen mit dem Messer zwischen den Zähnen. Ich quäle mich den
Anstieg von der Suhler Ausspanne zum Beerberg hoch, erschwerend kommt
hinzu, dass der Weg dort gerade umgebaut wird, sehr uneben ist und anders
verläuft als der frühere Rennsteig. Jeder Kilometer zieht sich jetzt wie
Kaugummi, nach endlos erscheinenden Minuten kommt endlich das berühmte
Schild: "höchster Punkt des Rennsteigs". Aber jetzt ist mein Energiedepot
leer, ich spüre förmlich, dass meine Konzentration weg ist. Ich stolpere
zweimal über Wurzeln, bekomme jedes Mal fast einen Krampf, beim dritten Mal
ist es dann so weit. Ich schlage mit voller Körperlänge auf, beide Beine
sind sofort verkrampft, sowohl Oberschenkel als auch Waden. Ein kurzer
Schrei, sofort sind vier Mann bei mir plus ein Sani, der in der Nähe auf
einem Stuhl saß. Ich möchte die Krämpfe eigentlich im Liegen herausgedrückt
haben, aber der Sani besteht darauf, mich auf meine Füße zu stellen.

Die Folge? er hatte Recht! Mit dem Gewicht meines Oberkörpers sind die
Krämpfe gleich wieder schwächer und ich beginne, sofort wieder zu laufen.
Dabei bemerke ich, dass ich an der rechten Hand blute, der linke Daumen
geprellt und fast steif ist und auch der rechte Ellenbogen was abbekommen
hat. Der Sani würde mich am liebsten aus dem Verkehr ziehen, aber ich bin
nur noch einen Kilometer von der Schmücke entfernt, dort steht meine Frau,
das will ich in jedem Fall jetzt schaffen. Der Sani gibt nach, auch weil
schnell klar ist, dass die Verletzungen banal sind.

Weiter geht es über die Straße auf die Wiese vor der Schmücke und rumms,
wieder sind die Beine weg. Auf dem Gras ausgerutscht und wieder
hingeschlagen, dank Gras aber dieses Mal ohne Verletzungen, einer der
Läufer hinter mir lästert: "bei Stürzen auf Gras gibt es keinen Mitleid, da
muss es schon Schotter sein, dass wir uns Sorgen machen." Ich lache und
genau in diesem Moment weiß ich: das schaffst du, egal was noch kommt.

Ich komme zur Schmücke da steht meine Frau und -noch ein kleines Wunder-
eine gute Lauffreundin aus Erfurt, mit der ich 2013 den Berlinmarathon
gelaufen bin, die danach aber viel Pech mit Verletzungen hatte und sich
gerade wieder im Wettkampfaufbau befindet. Sie hat sich spontan meiner Frau
angeschlossen, ist mit zur Schmücke gekommen, hat ihre Laufsachen an und
will mich als Pacemaker hinunter nach Schmiedefeld ziehen. Was für ein
schönes Geschenk, die beiden zu sehen!

Meine Frau fährt mit dem Auto in Richtung Ziel, S. und ich laufen sehr
vorsichtig die engen und mit Wurzeln verblockten Trails hinter der Schmücke
hinunter, nur nicht nur noch ein Sturz, es könnte einer zuviel sein. S.
redet auf mich ein, erzählt mir alle möglichen Anekdoten, um mich auf
andere Gedanken zu bringen. Ich möchte eigentlich antworten, aber es geht
nicht, ich bin am Anschlag, viel mehr als ein gelegentliches Brummen bringe
ich nicht mehr heraus. Ich merke nun ständig, dass irgendein anderer Muskel
kurz vor dem  Krampf ist und anfängt zu zucken. Rechter Oberschenkel, linke
Wade, dann mal rechte Wade, linker Fuß, dann wieder rechter Oberschenkel
usw. aber mit verlangsamten Tempo und bewußten Bewegungen kann ich
vermeiden, dass die Krämpfe so richtig durchschlagen, es bleibt bei
Krampfansätzen.

Es folgt die letzte Steigung hinauf zum Bierfleck, ich will gehen, merke
aber, dass das unter Krampfgesichtspunkten gefährlicher ist als langsames
Laufen und bleibe in der Laufbewegung, wenn auch im Schneckentempo. Der
Bierfleck ist erreicht, ich will eigentlich ein Bier trinken, das es dort
eigentlich gibt, aber ich finde keins (Tunnelblick!), also muss Cola
reichen und weiter geht´s.
S. macht die Pace, ich laufe ihr hinterher, ein völlig ungewohntes Gefühl,
in den letzten Monaten war immer ich das Zugpferd von uns beiden, aber sie
macht es super, nicht zu schnell, aber so dass ich wieder in Schwung komme
und sogar wieder eine Pace mit der 5 als erster Ziffer laufen kann. Es
folgen die Schilder mit den km 69 - 70 - 71 die letzten Kilometer sind im
Kasten und dann ist es da, das Stadion.

Ein emotional unbeschreibliches Erlebnis, dort einzulaufen, die Zuschauer
machen einen Höllenlärm, und man findet es so unglaublich geil, es
geschafft zu haben, gerade weil es so schwer war. Nur der Ötztaler
Radmarathon hat als Sportereignis bislang ähnliche emotionale Wellen bei
mir freigesetzt wie dieser Zieleinlauf....

Wolfgang

Mountainbike Team
Ostwest-Express e.V.
Dem Wahnsinn einen Namen geben...
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